Tagesausflug nach Essenheim zum Weingut Wagner

Manchmal fügt es sich, dass Termine dicht hintereinanderliegen, besonders, wenn sie einen langen Vorlauf haben. Das Wochenende an der Bergstraße ist gerade einmal zwei Wochen her, dennoch waren wir schon wieder auf Achse. Jutta hatte die Idee für diese Veranstaltung vor fast zwei Jahren, und auch die Organisation übernommen Bei der Planung ist man natürlich immer abhängig von den Terminkalendern der Winzer. Wenn der Winzer darüber hinaus ein gefragter Autor ist und Lesungen in der ganzen Republik anbietet, wird die Terminfindung nicht gerade leichter.

Wir trafen uns mit knapp 20 Personen und einer ausgeklügelten Logistik mit Gruppenkarten, Deutschlandticket, vorher an die Orga gemeldeten Einstiegshaltestellen im Bus 68, der sogar pünktlich war. Die Wartezeit am Hauptbahnhof Mainz konnte überbrückt werden mit 1. der Suche nach Bussteig „O“ und 2. einer Betriebsmittelzufuhr in Form von Brezeln oder Erzeugnissen der amerikanischen Systemgastronomie und verging wie im Flug.

Der Bus 654 zuckelt gemütlich durch Klein-Winternheim und Ober-Olm auf seinem Weg nach Essenheim und es ist sehr schön dort, so weit man das aus dem Busfenster erkennen kann. Ob es hier auch interessante Weingüter zu erkunden gibt?
Im Weingut Wagner angekommen, begrüßte uns Andreas Wagner mit einem trockenen Silvaner und einer Brezel zur Stärkung, bevor wir auf die Weinbergwanderung loszogen, zeitgleich übrigens mit seiner Frau und einer anderen Gruppe in die entgegengesetzte Richtung.
Andreas schleppte einen Rucksack mit Weinen und ein Klemmbrett mit Textauszügen seiner Romane.

Zunächst gab es Eckdaten zum Familienweingut: 1692 erwarben die Vorfahren erste Weinberge in Essenheim. Heute sind 30 ha im Anbau, es werden ca. 240.000 Flaschen pro Jahr erzeugt. Der Abverkauf ist zu 95% an Privatkunden, etwas Gastronomie, keine Händler. Kunden sind in ganz Deutschland verteilt, viele kommen regelmäßig aus dem näheren und weiteren Umland und laden das Auto randvoll. Früher ein Mischbetrieb, wie so viele, hat man sich inzwischen ganz dem Wein gewidmet und auf biologischen Weinbau umgestellt. Die drei Brüder haben das Weingut vor über 20 Jahren übernommen, der Vater, 82, ist allerdings noch immer sehr aktiv – sei es im Weinberg beim Ausbringen von Spritzmitteln (mit Tracking-Handy …), sei es in der Straußwirtschaft mit dem Schleppen von schwer beladenen Tabletts.
Gelesen wird von Hand und mit dem Vollernter, je nach Reifegrad, Wetter und gebotener Eile.

Der erste Haltepunkt der Wanderung auf einer beschaulichen Wiese hinter dem Haus bescherte uns eine Textstelle aus dem Roman „Hergottsacker“, nämlich der Leichenfund durch den Hund auf einem Spaziergang. Dazu erklärte Andreas, wie die Idee zu dieser Szene zustande kam. Beim Ausbau der Freitreppe der Kirche fanden Bauarbeiter einst menschliche Knochen – an einem Freitagnachmittag. Um nicht den Feierabend zu verlieren, packten sie die Erde und Knochen kurzerhand auf den Bauwagen und kippten sie auf den Erdhügel mit den anderen Erdresten vom Aushub, irgendwo zwischen den Weinbergen. Just am nächsten Montag trug es sich zu, dass eine Kitagruppe eine kleine Wanderung unternahm. Als ein kleiner Junge des Abends mit menschlichen Gebeinen auf seiner kleinen Blechtrommel herumtrommelte, kam die Sache ans Licht. Es waren indes Knochen aus dem 18. Jahrhundert. Dieses kuriose Ereignis hatte Andreas in seinem Notizbuch notiert für eine spätere Verwendung. Es ist immer interessant, wie Autoren inspiriert werden (vor allem, wenn man sich schon selbst an Belletristik versucht hat, wie Eure Chronistin).

Weiter ging es zu einer Stelle mit einem Wäldchen auf der einen Seite des Weges und einem herrlichen Ausblick auf die Weinhügel auf der anderen Seite. Ganze 2 Rebzeilen hat Familie Wagner an dieser Stelle, zu erkennen am rot eingefärbten

Stickel. Dass diese zwei Reihen biologisch sind, sah man auf den ersten Blick – sattes Grün der Blätter und auf dem Boden. Die herbizidgetränkten Reihen rechts und links sahen weniger glücklich aus. Zum Glück sind die konventionellen Winzer so vernünftig, nicht bei starkem Wind zu spritzen, zudem haben sie heutzutage Maschinen mit den Spritztunneln, so dass es so gut wie keine Verunreinigung gibt.
An dieser Stelle verkosteten wir einen Rosé, die Drei Jungs, einem Cuvée aus Cabernet Sauvignon und Merlot. Früher hatte man, um die Rotweine kräftiger ausbauen zu können, eine Vorlese gemacht und die Trauben reduziert, indem man Überzählige auf den Boden warf. Nachhaltig ist das allerdings nicht und passt nicht zum Anspruch eines Biobetriebs. Daher ist man dazu übergegangen, eine Vorlese zu machen, aus der man Rosé erzeugt. Das ist arbeitsintensiv und verlangt Können, denn man muss entscheiden, welche Trauben man hängen lässt und welche man liest. Die eigentliche Rotweinlese geht dann erheblich schneller, da wird nur noch faules oder beschädigtes Traubengut entfernt.
Der Rosé ist sehr gelungen, fruchtig, sommerlich, trocken. Auf dem Etikett ist ein altes Foto von drei Jungen im Weinberg abgebildet, aus dem Familienalbum. Als Textstelle, von diesem dichten waldähnlichen Bewuchs hinter dem Weg inspiriert, folgte ein Auszug aus einem der älteren Romane – der Rüben-Rudi, ein älterer, dem Alkohol stark zugeneigter ehemaliger Winzer, der in seiner Freizeit Easy Rider Fantasien mit dem Moped auslebt – und dabei eine unschöne Begegnung mit einem gespannten Draht hat. Was Andreas Wagner auszeichnet, ist, dass er gruselige Begebenheiten mit besonderem Sprachwitz und ironischen Formulierungen schildert, die beim Lesen – oder Vorgelesenbekommen – sehr großen Spaß machen.

Den Rotwein, einen reinen Merlot, probierten wir an einer Wegkreuzung zwischen den Weinbergen. Der Wein bekommt ausreichend Reifezeit, erst im Stahltank, dann in gebrauchten Barriques – man möchte einen Austausch mit der Luft, keinen übermäßigen Holzeintrag. Nachdem die Gläser gespült waren, schloss sich ein Grauburgunder an.

Als Lesung gab es einen Auszug, der besonders zum Kennenlernen eines Winzer-cum-Detektivs aus der Feder von Andreas geeignet war.
Seine ersten Romane hatten einen nach Rheinhessen versetzten Polizist aus Dortmund als Hauptfigur. Irgendwann jedoch stand dem Autor der Sinn nach neuem Personal und so ersann er sich einen liebenswerten, etwas skurrilen Winzer, der als eine Art Miss Marple in männlicher, rheinhessischer Version konzipiert ist – Kurt-OttoHattemer. Wir wissen alle, dass es einen Winzer mit diesem Nachnamen in Gau-Algesheim gibt, der wurde natürlich um Erlaubnis gefragt.
Kurt-Otto Hattemer jedenfalls ist ein Genießer und insbesondere „Bixebratworscht“ hat es ihm angetan, Bratwurst in Dosen. Seine Gattin, eine Studienrätin, lässt sich gelegentlich von Kochsendungen, aber auch batiktuchbehangenen Kolleginnen aus dem Lehrerzimmer zu neuen Kreationen inspirieren. Gegen Geschnetzeltem aus Lupinenbratlingen mit wenig animierender Konsistenz hilft da nur ein geheimer Vorratan Wurstdosen. Herrlich die Szene, wie das Versteck in der Weinpresse bei einer nächtlichen Heißhungerattacke auffliegt.
Andreas berichtet auch an dieser Stelle von kuriosen Reaktionen einiger Besucher einer Lesung in Berlin, bei der sich die Buchhändlerinnen alle Mühe gegeben hatten, Bixebratworscht zu besorgen – zum Beispiel, wie man denn die Bratwurst in die Dose bekäme und wie man sie braten solle …

Nach der Rückkehr ins Weingut folgte eine kurze Kellerführung mit einem Riesling von einem sehr kalkhaltigen Boden. Kalk hat den Vorteil, die Säure gut abzupuffern, und sorgt für sehr gut trinkbare, aromatische, aber auch weiche Rieslinge.
Nach dem üblichen Abschiesritual – Gästebuch, Hochheimer Blumen (vom Weingut Schäfer), Applaus und Dank begaben wir uns an unseren reservierten Tisch im Hof der Straußwirtschaft, unter dem Dach, zum Glück, denn jetzt setzte der langersehnte Regen ein. Perfektes Timing! Wir ließen den Abend bei leckerem Essen und leckerenWeinen ausklingen, ehe wir um 18:55 Uhr den Heimweg antraten (und dabei für Stimmung im Bus sorgten).
Eine sehr gelungene Veranstaltung!